Gleich vorweg: es war eine wunderbare Gelegenheit, das Antrittskonzert von Kirill Petrenko als Chef der Berliner Philharmoniker zeitgleich im Kino erleben zu können. Danke an alle, die das ermöglicht haben, und danke der Kinothek Lustenau, die das auch für die Musik- und Petrenko-Fans im Ländle möglich gemacht hat – Kirill Petrenko hat ja starke Verwurzelungen in Vorarlberg. So fanden sich immerhin gut 50 Musikfreunde und –freundinnen im angenehmen Saal der Kinothek Lustenau ein und verfolgten das große Ereignis auf der Leinwand und aus den guten, wenn auch nicht optimalen Lautsprechern. Vor dem eigentlichen Konzert gab es eine halbe Stunde lang Interviews mit Orchestermitgliedern, die allesamt die außergewöhnlichen Fähigkeiten und Eigenschaften Petrenkos hervorhoben, und das will etwas heißen. Denn die Namen von Petrenkos Vorgänger sind klingend in der Musikwelt: Sir Simon Rattle, Claudio Abbado, Herbert von Karajan, Wilhelm Furtwängler…..Und schließlich erlebte man auch den Maestro selbst, in seiner bescheidenen Art sprechend. Seine ablehnende Haltung Interviews gegenüber kann er auf dem neuen Posten offenbar nicht so konsequent durchziehen wie in München, wo er noch eine Saison den Posten des Generalmusikdirektors bekleidet, parallel zu Berlin.
Kirill Petrenko hat mit dem Programm seines Antrittskonzertes auch gleich seine musikalische Visitenkarte abgegeben. Denn seine musikalischen Vorlieben liegen durchaus auch in schwieriger zugänglichen Werken. So wie beispielsweise der Lulu-Suite, also den fünf symphonischen Stücken aus der – unvollendet gebliebenen – Oper Lulu von Alban Berg. In seltener Durchhörbarkeit und Klarheit erklang sie hier durch die fabelhaften Musikerinnen und Musiker der Berliner Philharmoniker, und sie bot der Sopranistin Marlis Petersen, die in dieser Saison „Artist in Residence“ bei den Berlinern ist, ihren ersten Auftritt. Auch nach der Pause war die von Kirill Petrenko sehr geschätzte Sängerin auf dem Podium, und zwar als Solistin in der Neunten Symphonie von Beethoven. Diese, das vielleicht populärste Werk der Klassik, wie der Moderator der Übertragung meinte, bildete den zweiten Teil des Konzertes.
„So gut wie hier habe ich die Neunte noch nie gehört“, dies sagten gleich mehrere Personen nach der Kino-Übertragung: Ich pflichte dem nicht bei, denn ich habe sie schon einmal so gut gehört, jedoch ganz anders, und der Vergleich zwischen den beiden Aufführungen lohnt sich. Wer mich kennt, ahnt schon, wer der Dirigent der ebenso guten Aufführung war: Nikolaus Harnoncourt, und zwar im Jahre 1991 in Graz. Das ist freilich lange her, aber dieses Konzert hat mich dermaßen geprägt, dass ich es noch in lebhaftester Erinnerung habe. Nicht zuletzt begann damit meine Tätigkeit als Musikrezensentin – eine eigene, ganz besondere Geschichte. Zudem gibt es alle neun Beethoven-Sinfonien mit Harnoncourt auf CD und daher sind die jederzeit nachhörbar.
Nikolaus Harnoncourt hat, zumindest damals und kurz drauf, als er die neun Beethoven-Sinfonien bei den Salzburger Festspielen aufführte, minutiös die Erkenntnisse der Musikologen Arnold Schering umgesetzt. Schering hat herausgefunden, dass Beethoven immer Geschehnisse aus der Literatur als Inspirationsquelle hatte. Auch dies wäre eine riesige Geschichte. Nur so viel: In der Neunten liegen nicht nur dem letzten Satz, wo er sozusagen die Katze aus dem Sack lässt, sondern allen Sätzen Gedichte von Friedrich Schiller zu Grunde. Ich weiß es nicht, aber nach dem Hörerlebnis vom Freitag vermute ich es stark, dass Kirill Petrenko sich dieser Meinung nicht anschließt. Denn gerade in den beiden letzten Sätzen unterscheiden sich die Zugänge der beiden großartigen Dirigenten stark. Bei Harnoncourt hat der dritte Satz, das Adagio molto e cantabile, ganz viel zu tun mit einer persönlichen spirituellen Innerlichkeit, und so interpretiert er es auch. Bei Kirill Petrenko habe ich gerade diesen Satz als einen wunderschönen, aber eher normalen langsamen Satz einer Sinfonie erlebt. Hingegen hat Kirill Petrenko den Schlusssatz mit dem Chor und den Solisten ganz intensiv als religiöse beziehungsweise spirituelle Feier gesehen. Diese auch von Beethoven als starker Kulminationspunkt gesetzte Stelle auf das Wort „Gott“ („und der Cherub steht vor Gott, vor Gott“) war ein unglaublich erschütternder Moment in der Aufführung in Berlin.
Für Harnoncourt hingegen ist der letzte Satz ein Freudenfest, und das durchaus auch in Richtung eines Bacchanals. Wie der Arnold Schönberg Chor damals das Wort „Kuss“ („diesen Kuss der ganzen Welt“) aussprach, entlockt mir auch jedes Mal, wenn ich die CD höre, ein glückliches Schmunzeln.
Natürlich waren die beide Aufnahmen auch hinsichtlich der Besetzung äußerst verschieden, denn die Berliner Philharmoniker haben definitiv eine völlig andere Klangkultur als das sehr schlank besetzte Chamber Orchestra of Europe, und auch der Arnold Schönberg Chor klingt meist trennschärfer als der bei aller Klarheit und Sauberkeit runder singende Rundfunkchor Berlin. All das hier Geäußerte ist keine Frage der Qualität, sondern lediglich der Auffassung, das sei hier nochmals eindeutig betont.
Alice Harnoncourt hat mir einmal persönlich gesagt, dass ihr Mann nach einer Radioübertragung eines Konzertes von Kirill Petrenko (ich vermute, es war eine Mozart-Matinee aus Salzburg) geäußert hat: „Wenn solche jungen Musiker nachkommen, dann ist mir nicht bange um die Zukunft der Musik.“ Harnoncourt hatte sich Beethovens Neunte für den Festspielsommer 2016 in Salzburg und Graz vorgenommen. Wie wir wissen, ist er im März desselben Jahres gestorben. Beim Hören von Kirill Petrenkos Neunter ist mit der Gedanke durch den Kopf gezogen, dass dies wohl der eigentliche – und würdige – Ersatz war für diese von meinem so verehrten Nikolaus Harnoncourt nicht mehr dirigierte Neunte.
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