Mehrmals verschoben, erlebte nun das neue Werk „Der Zorn Gottes“ der 1931 geborenen Sofia Asgatowna Gubaidulina nun seine Uraufführung unter besonderen Umständen.
Bereits aus dem Jahr 2019 verschoben, sollte das neue Stück Gubaidulinas nun bei den Salzburger Osterfestspielen 2020 unter der Stabführung von Christian Thielemann und musiziert von der Staatskapelle Dresden zum ersten Mal erklingen. Die Salzburger Osterfestspiele fanden aufgrund der Corona-Pandemie nicht statt. Nun hat sich das Festival „Wien modern“ dieses neuen Werks der wohl größten Komponistenpersönlichkeit unserer Zeit angenommen. Oksana Lyniv dirigierte das Radio Symphonieorchester Wien am 6.November im Goldenen Saal des Musikvereins, aber ohne Publikum. Dankenswerterweise konnte man die Aufführung, bei der noch Gubaidulinas Konzert für Viola und Orchester mit Antoine Tamestit erklang, aktuell im Streaming mitverfolgen und sieben Tage lang nachhören.
Gubaidulinas neues Werk „Der Zorn Gottes“ nimmt Bezug auf Beethoven, und zwar auf sein letztes vollendetes Werk, das Streichquartett Opus 135 in F-Dur Dort gibt es ein charakteristisches Frage- und Antwortmotiv aus wenigen Tönen, das mit den Worten „Muss es sein – es muss sein“ unterlegt wird. Gängigerweise wird dazu die Anekdote erzählt, dass dieser kleine Dialog stattgefunden hat, als Beethovens Haushälterin den Meister um das Wirtschaftsgeld für die nächste Woche gebeten hat. Eine eher humorvolle Alltagssituation also ist es, die dem gewichtigen Opus 135 da beigegeben wird. Sofia Gubaidulina versichert in einem aktuellen Interview, dass Beethoven zu ihr spreche. Das mag man gerne glauben, wenn man um ihren spirituellen Weg und ihre tiefe Geistigkeit weiß. Und Gubaidulina deutet aufgrund dieser Einblicke in verborgene geistige Welten das „Muss es sein – es muss sein“ anders. Wie genau, wissen wir nicht, aber sie sagt in demselben Interview, dass Gott zornig sei auf die Menschen, weil diese so viel Schlechtes tun.
Wie klingt nun dieser göttliche Zorn? Zu Beginn des siebzehn Minuten dauernden Werk für großes Orchesters hören wir klar das Motiv Beethovens, und das gibt eine eher tonale Grundrichtung, die nie gänzlich verlassen wird. Auch wilde Entwicklungen, die man aufgrund des Titels vielleicht erwarten würde, finden nicht wirklich statt. Jedoch gibt es viel Verhaltenes, das sich dann doch wie in Wellen zu intensiven Klängen aufbäumt.
„Der Zorn Gottes“ entlädt sich also auf denkbar kultivierte, ästhetische Weise, wenngleich eindrucksvoll, ja machtvoll. Die junge ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv, die nächstes Jahr auch bei einer Premiere in Bayreuth am Pult stehen wird, dirigiert das großartige Werke entsprechend und mit großem Ausdruck und Können.
Wer sich näher mit Sofia Gubaidulina, Ihrer Persönlichkeit und Spiritualität, aber vor allem auch ihrer Kompositionsweise, beschäftigen möchte, dem empfehle ich mein Buch, das Ende 2019 erschienen ist. Sein Titel ist „Tausend Jahre – ein Tag“ und betrachtet die Musik Hildegard von Bingens und eben die von Sofia Gubaidulina. Es wird allgemein gelobt, ist, wie ich höre, auch für weniger musikaffine Menschen lesbar und eignet sich somit auch als sinnreiche Weihnachtsgabe.
Anna Mika: Tausend Jahre – ein Tag. Betrachtungen zur Musik von Hildegard von Bingen und Sofia Gubaidulina. Hohenems-Vaduz-München-Zürich 2019, Bucher Verlag. Euro 11.90
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