Vor einigen Tagen ist ein der bemerkenswertesten Sängerinnen unserer Zeit verstorben. Jessye Norman erlag 74jährig den Folgen einer Rückenmarksverletzung. Die Sängerin aus dem amerikanischen Georgia, Tochter eines Bürgerrechtsaktivisten-Ehepaares, ist in kein Raster zu zwingen. Sopran oder Mezzosopran? Lyrisch oder dramatisch? Ihre so persönlich timbrierte Stimme kannte keine Grenzen, ihre majestätische Erscheinung überwältigte. Einmal, zu Mitte der 1980er Jahre, trat sie sogar im Ländle auf. Sie gab einen Liederabend im Feldkircher Montforthaus im Rahmen der Schubertiade. Es war ein Fest, denn nach dem klassischen Programm folgten jede Menge Spirituals als Zugaben. Das Ende dieses Konzert konnte ich nicht erleben, denn ich musste auf den letzten Zug.
Es war nicht das einzige Mal, dass ich Jessye Norman gehört habe, denn ich habe ihren ersten Auftritt in Europa erlebt, und dieser war bemerkenswert. Meine Freundin Eva L. und ich, beide verrückt nach Klassischem Gesang, sind drauf gekommen, dass die ersten Durchgänge des ARD-Wettbewerbes im Funkhaus in München gratis zu besuchen sind. Also fanden wir uns im Spätsommer 1968 – es war noch in den großen Ferien – täglich dort ein und hörten die mehr oder minder hoffnungsvollen Kandidaten und Kandidatinnen. Einmal ging die Tür auf und auf die Bühne kam eine korpulente Farbige, ihre nackten Beine in ausgetretenen Mokassins. Bekleidet war sie mit einem Faltenrock, großkariert in Gelb und Braun und einer in etwa passenden Jacke. Das Publikum brach tatsächlich in Gelächter aus. Doch als diese junge Frau – es war Jessye Norman – zu singen begann, stockte uns allen der Atem, den so eine wunderbare und farbenreiche Stimme hat man wohl in diesem Saal noch nie gehört. Ich weiß es noch gut, Jessye Norman sang damals die Szene der Santuzza aus Cavalleria rusticana. Sie erhielt damals den ersten Preis, und ein zweiter wurde nicht vergeben, denn man wollte ihre haushohe Überlegenheit allen anderen Kandidatinnen gegenüber markieren.
Das weitere von Jessye Normans Karriere ist bekannt. Ich wünsche ihr, dass ihre Seele nun in einem Teil des Paradieses lebt, wo ihr das Glück, das sie so vielen Menschen durch ihren Gesang geschenkt hat, vergolten wird mit überirdisch schönen Klängen.
(Foto Youtube)
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