Allerorten sind in der österlichen Zeit Aufführungen der Bach’schen Passionen zu hören. So auch der Matthäuspassion, wenngleich diese um Einiges länger ist als die Johannespassion und anders als diese, idealerwiese eine Doppelchörigkeit verlang, das heißt, zwei Chöre (plus Kinderchor), zwei Orchester und vielleicht sogar zwei SängerInnenquartette. Seit meiner Jugendzeit habe ich schon viele Aufführungen beider Passionen gehört, und da war Herausragendes darunter, so in München immer wieder Karl Richter, später mehrfach Harnoncourt in Wien nebst anderen international oder lokal wichtigen Interpreten. Mit Karl Richter verbindet mich meine Freundschaft mit einer langjährigen Sopranistin seines Chores. Mit Harnoncourt, dass ich die Erlaubnis hatte, in seinen Proben zuzuhören und dass schließlich meine Tochter Aglaia Maria Mika einmal im Arnold Schönberg-Chor mit ihm die Johannespassion sang. Zudem habe ich der Volkshochschule Bregenz einen Kurs über beide Passionen von Johann Sebastian Bach gehalten, nach intensiver Beschäftigung mit der Symbolsprache dieser beiden Werke, die mich bis heute auf das Tiefste fasziniert.
Als ich nun erfuhr, dass das fabelhafte Musikkollegium Winterthur kurz vor dem Palmsonntag 2024 die Matthäuspassion aufführt, setzte ich alles dran, bei diesem Konzert in der Stadtkirche Winterthur dabei zu sein. Zumal Ian Bostridge als Evangelist besetzt war, den ich sowohl menschlich wie auch als Interpret auf das Höchste wertschätze. Ich erwartete mir viel, doch was ich erlebte, war noch viel stärker. Doch bevor ich darüber schreibe, will ich die bis ins kleine ChoristInnensolo hervorragende Qualität loben, die diese bahnbrechende Interpretation überhaupt möglich machte. Sehr überzeugend die Gesangssoli, die mit Joanne Lunn, Sopran, der wunderbaren Ann Hallenberg, Alt, Benjamin Bruns, Tenor, und mit dem markanten Simon Keenlyside, Bass, besetzt waren. Erstaunlicherweise sang die Partie des Christus nicht, wie üblich, ein reiferer Sänger mit würdiger Ausstrahlung, sondern der junge, aus Bayern stammende Jonas Müller. Eine warme, wohlklingende Bassstimme zeichnet ihn aus. Natürlich denkt man sogleich, dass Jesus von Nazareth ja auch erst Anfang dreißig war, als er die Passion erdulden musste – ein erster Hinweis darauf, wie lebensnah diese Winterthurer Matthäuspassion aufzufassen war. Lebensnah und damit hochdramatisch, so kann man diese Interpretation am ehesten beschreiben. Das merkte man schon beim (gekürzten) Eingangschor, wo Dirigent Roberto Gonzáles-Monjas der Zürcher Sing-Akademie scharfe Akzente abforderte. Und der Sturm, der im Chor „Sind Blitze, sind Donner…“ losbrach, raubte einem den Atem.
Doch das verführte das Orchester, das Musikkollegium Winterthur nicht zu dicker Spielweise. Ganz im Gegenteil, sie musizierten so fein, wie es nur denkbar ist. Kaum einmal habe ich die konzertierenden Soli zu den Arien sensibler gehört, etwa das Violinsolo der Alt-Arie „Erbarme Dich“ von Bogdan Bożović, die Flöten der Sopranarie „Aus Liebe“ von Dimitri Vecchi und Maria Levicka oder das aufblitzende Violinsolo der Bassarie „Gebt mir meinen Jesum wieder“ über die „dreißig Silberlinge“ von Ralph Orendain.
Wer Ian Bostridge von seinen Liederabenden kennt, und hier denke ich vor allem an seine Winterreise (Schubert), der weiß, mit welcher Selbstentäußerung dieser Sänger gestaltet. Die Passion als Winterreise Jesu Christi? Für mache vielleicht ein blasphemischer Gedanke, hier drängte er sich mir auf. Ian Bostridge singt den Evangelisten mit Klangfarben, die einen die Schauer über den Rücken jagen, ja, sie mögen sogar verstören, wenn er soweit geht in seinem Ausdruck, dass ihm die Stimme bricht. Und als er nach seinem letzten Gesang sich auf die Stufen kauert, bekommt man einige Momente lang richtig Angst um ihn. Doch dann, als sich die anderen Soli und sogar der Chor sich gleichsam tröstend zu ihm setzen, versteht man, dass es so gewollt ist. „Wir setzten uns mit Tränen nieder“ – wie ergreifend kann das doch sein! Christus aber steht wie eine Erscheinung über ihnen allen.
Es war eine Matthäuspassion, in deren Mittelpunkt die Ergriffenheit, ja die Aufgewühltheit und Empörung des Evangelisten stand, so, als müsse er dieses ungeheuerliche Geschehen loswerden, unter die Leute bringen.
Das Publikum in der an zwei Abenden bis auf den letzten Platz besetzen Stadtkirche war ebenfalls ergriffen und dankte mit Standing Ovations.
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