Normalerweise sprechen mich streaming-Angebote eher nicht an. Es fehlt mit die Geduld, so lange vor dem Bildschirm auszuharren. Schließlich haben wir auch keinen Fernseher. Doch vorgestern, Mittwoch, 3.3., machte ich eine Ausnahme. Ausschlaggebend waren die persönlichen Bezüge zum Konzertort und zu einigen der Ausführenden, nicht zuletzt dem Tenorsolisten.
Es war ein Konzert aus Winterthur (CH) mit dem dortigen Musikkollegium. Dieses Instrumentalensemble bereichert diese Stadt mit ihren gut einhunderttausend Einwohnern nahe Zürich auf eine sehr authentische und spannende Art und Weise. So kommen gerne auch internationale Künstlerinnen und Künstler vorbei. Einer davon ist der englische Tenor Ian Bostridge, der vor ein paar Jahren hier sogar eine Saison lang Artist in Resonnance war. Mir unvergessen ist seine Interpretation der Neufassung der Winterreise von Franz Schubert durch Hans Zender mit dem Musikkollegium Winterthur, damals dirigiert von Thomas Zehetmair, und ich möchte einmal mehr auf das herausragende Buch über Schuberts Winterreise hinweisen, das Bostridge, der auch promovierter Historiker ist, vor wenigen Jahren vorgelegt hat und das auch auf Deutsch erhältlich ist.
Doch nicht Schubert war an diesem Märztag zu erleben, vor den derzeit in der Schweiz zugelassenen zehn Besucherinnen und Besuchern im Saal und den vielen Menschen, die das Streaming gekauft haben. Sondern es waren zwei Kantaten von Johann Sebastian Bach, dazu ein Chor und eine Arie aus der Trauerode BWV 198 und weiters zwei Sinfonien.
Es ist schwierig, die Interpretation klanglich zu kommentieren, da hier viele technische Faktoren hereinspielen. Sicher gesagt werden kann aber, dass vom Musikkollegium wie auch vom Chor sehr klar nach den Prinzipien der Klangrede musiziert und gesungen wurde. So ließ die Sinfonia funebre c-Moll von Joseph Martin Kraus aufhorchen als ein wunderschönes Werk an der Schwelle zur Klassik. Das Ende des Konzertes bildete eine weitere Sinfonie, nämlich die Nr.44 in e-Moll von Joseph Haydn mit dem Beinamen Trauer. Unter der Gesamtleitung von Roberto Gonzáles-Monjas erklang diese sehr herb, gemäß ihrer innewohnenden Ausdruckswelt. Gonzáles-Monjas nahm einerseits die Rolle des Konzertmeisters ein und spiele durchwegs den Violinpart mit, er stand jedoch auch immer wieder auf, um zudem als Dirigent zu wirken. An dieser Stelle sei der oben genannte persönliche Bezug zu einigen Musikern präzisiert. In Vorarlberg bestens bekannt mit die Stimmführerin der Violoncelli, die aus Feldkirch stammende Cäcilia Chmel, wie auch die seit wenigen Jahren am Vorarlberger Landeskonservatorium lehrende Flötistin Nolwenn Bargin.
Sie war es auch, die bei Bachs Kantate Ich armer Mensch, ich Sündenknecht BWV 55 den konzertierenden Part sehr ansprechend ausgeführt hat. Es ist die einzige Kantate für Tenor Solo, die uns von Bach erhalten ist und wurde 1726 in Leipzig uraufgeführt. Ian Bostridge war stimmlich in bester Form, dazu zeichnete sich sein Vortrag durch große Wortdeutlichkeit aus, was man gerade bei den zuweilen recht speziellen Texten Bach’scher Kantaten dankbar wahrnahm. Im zweiten Teil des Konzertes sang Bostridge dann die bekannte und umfangreiche Kantate Ich habe genug. Eigentlich ist sie für Bariton oder Alt geschrieben, doch Bach selbst hat sie auch für Tenor gesetzt. Die Ausdrucksflexibilität des Sängers und seine schon erwähnte Affinität zum Text, dazu die spannend und stimmig gewählten Tempi des Orchesters machten diese Kantate zu einem Ereignis. Mit einer Arie aus der Trauerode BWV 198 von Bach zeigte der Tenor abschließend seine Koloratursicherheit, bevor das Konzert mit Haydn, wie erwähnt, ausklang.
Auch wenn von Seiten des Klangs und auch der Kameraführung nicht alles eitel Wonne war, so muss man doch dem Team des Musikkollegiums Winterthur ausgesprochen dankbar für dieses ganz besondere Musikerlebnis sein. Trotz der durchgehend traurigen Attitude des Programms ließen einem die Klänge glücklich und erfüllt zurück.
(Foto Ian Bostridge: Machreich Artists)
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