Paul Gay: Die Frage nach dem Schicksal
Am Mittwoch werden die Bregenzer Festspiele mit der Oper im Haus eröffnet: „Oedipe“ von George Enescu. Es ist zugleich der Einstand der neuen Intendantin Lilli Paasikivi. Die Krone sprach mit dem Darsteller der Titelpartie, dem französischen Bassbariton Paul Gay. Er ist kurz vor Probenbeginn für Johan Reuter eingesprungen, der aus persönlichen Gründen absagte. Paul Gay hat den „Oedipe“ bereits zweimal konzertant gesungen, in Paris und in Bukarest, jeweils mit Vladimir Jurowski.
Herr Gay, stimmt es, dass Sie die Partie des Oedipe gelernt haben, ohne dass ein Engagement dafür in Aussicht stand?
Nun, es ist normalerweise meine Art, Partien zu lernen, ohne dafür bereits angefragt zu sein. Im Falle einer Anfrage kann ich dann ja sagen, oder auch nein, denn ich kenne die Partei schon und weiß, ob sie zu mir passt.
Oedipe ist eine sehr fordernde Partie!
Er ist eine Figur mit einem starken Bruch in seinem Charakter, eine Figur, die durch Leid geht. Ich stelle gerne solche Charaktere dar, wie übrigens den Golaud in Debussys „Pelléas et Mélisande“, eine Partie, die mich begleitet.
Schildern Sie uns bitte genauer den Charakter des Oedipe. Die Handlung der Oper zieht sich ja durch sein ganzes Leben, von seiner Geburt weg, wo seine Eltern das unselige Orakel erfahren.
Natürlich spiele ich nicht das Baby (lacht). Die Gesangspartie beginnt im 2.Akt, wo er schon fast erwachsen ist. Oedipus ist eine starke Person mit großer Energie. Er erfährt vom Orakel und verlässt sein vermeintliches Elternhaus. Aber er kann seinem Schicksal nicht entfliehen, er geht direkt in die Falle und tötet unwissentlich seinen Vater.
Interessant ist, dass die Frage der Sphinx anders lautet als im überlieferten Mythos beziehungsweise dem Drama von Sophokles.
Genau. Ist die Antwort richtig, stirbt die Sphinx, falsch beantwortet stirbst Du. Die Frage in der Oper lautet: “Welches Wesen ist größer als das Schicksal?“ Ödipus sagt darauf: „Der Mensch ist stärker als das Schicksal.“ Er sagt „stärker“, nicht „größer“. Ein interessanter Unterschied, denn die Frage ist trotzdem, ob der Mensch das Schicksal besiegt. Durch diese Antwort erlöst Ödipus die Stadt vom Terror der Sphinx. Er wird König. Jetzt kann er seine Stärke ausleben, er ist ein guter König. Aber er hat seine Mutter Jokaste geheiratet. Als er die Wahrheit erkennt, ist er gebrochen, wird plötzlich zu einem Greis, er blendet sich selbst. Als Blinder sieht er endlich die Wahrheit. Doch anderes als im Mythos verzeiht ihm Apollon in der Oper, da er diese schrecklichen Taten ja unwissentlich begangen hat.
Warum beschäftigt uns dieser alte Mythos heute noch, etwa Siegmund Freud?
Es geht um den Inzest. Dieser ist ein Tabu, wird aber ständig gelebt, neunzig Prozent davon bleibt im Dunklen. Das Funktionieren der Gesellschaft ist durch das Inzestverbot geschützt, denn Inzest ist zerstörerisch. Genau das passiert im dritten Akt der Oper. Die Gesellschaft geht kaputt, weil es einen Inzest gibt, der nicht gesühnt ist. Der Ödipus-Mythos gibt uns eine Richtschnur für unser Verhalten.
Jeder der vier Akte ist in der Regie von Andreas Kriegenburg einem Element zugeordnet. Was ist die Idee dahinter?
Andreas will wohl zeigen, dass diese Geschichte eine Reise durch Zeit und Raum ist: Sie ist global, ja universell. Feuer im 1.Akt, dann Wasser, dann Erde und schließlich Luft, wenn Ödipus verklärt wird.
Die Oper „Oedipe“ wurde 1936 in Paris uraufgeführt. Man kann sich vorstellen, dass die zentrale Gesangspartie nicht gerade konventionell ist.
Eine normale Partie, sagen wir, von Verdi, kann ein erfahrener Sänger in zehn Tagen lernen. Für „Oedipe“ habe ich fast ein halbes Jahr gebraucht. Das ging, weil ich in dieser Zeit zwar Engagements hatte, aber eher unkomplizierte Partien. Oedipe ist eine Rolle, für die man gute Nerven und viel Erfahrung braucht, damit man seine Kräfte klug einteilt. Sie erfordert einen extremen Tonumfang in die Höhe und die Tiefe, es kommen Vierteltöne vor, man muss Sprechen und Schreien, alles über ein großes Orchester. Und am Ende ist die schönste, zarteste Arie zu singen.
Wenn Sie an den Premierenabend denken, auf was freuen Sie sich besonders?
Auf die Kommunikation mit mir selbst, dem Orchester, den Kollegen auf der Bühne und dem Publikum. So kann ein großes Kunstwerk entstehen.
Vielen Dank für das Gespräch und toitoitoi!
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