Zwanzig Jahre lang soll der Rumäne George Enescu an seiner Oper „Oedipe“ gearbeitet haben. 1936 wurde dieses großartige, sehr eigenständige Werk in Paris uraufgeführt, ist aber seither ein Geheimtipp geblieben. Als erste Premiere der neuen Intendantin Lilli Paasikivi war „Oedipe“ nun im Festspielhaus Bregenz zu erleben, und zwar ungekürzt. Dass dieses oft konzertant gegebene Werk szenisch bestens realisierbar ist, bewiesen Regisseur Andreas Kriegenburg mit seinem Team, dem Bühnenbildner Harald B. Thor, der Kostümbildnerin Tanja Hofmann und dem Lichtdesigner Andreas Grüter. Die antike Sage des Ödipus, dem bei seiner Geburt ein schreckliches Orakel geweissagt wird und der dies alles durchleben und durchleiden muss, ohne um die Tragik zu wissen, erzählt Enescu sehr behutsam und klar, sowohl was den szenischen Ablauf betrifft als auch durch das Orchester. Dieses ist zwar riesig besetzt, klingt aber vielfach sehr zart und ballt sich nur in den dramatischen Momenten zu voller Wucht. Hannu Lintu dirigiert die Wiener Symphoniker ruhig und umsichtig und führt die Gesangssolisten wie auch den fabelhaften Prager Philharmonischen Chor klangschön und sicher.

Sollte jemand Angst haben vor der zur Zeit der Uraufführung bereits vorhandenen Atonalität (Alban Bergs Wozzeck wurde 1926 uraufgeführt): man kann ihn oder sie beruhigen. Die Orchesterpartitur ist klangschön, vielfach gibt es tonmalerische Effekte wie die helle Flöte, wenn es um den Hirten (Mihails Čulpajevs) geht, der den Säugling Ödipus hätte aussetzen soll, ihn aber an den Hof von Korinth brachte, wo er aufwuchs. Oder man hört das Gluckern der heiligen Quelle bei der Erlösung des Helden im Wald. Die Partien der Sänger sind vielfach im Parlandostil geführt. Zuweilen gibt es expressive Elemente wie das Stöhnen der Jokaste, als man ihr das Kind wegnimmt, oder das bloße Atmen des Chors in der düsteren Pestszene. Überhaupt der Chor: nur ein Profiensemble von allererster Qualität kann diese umfangreiche und fordernde Partie bewältigen. Die Sängerinnen und Sänger des Prager Philharmonischen Chors, einstudiert von Lukas Vasilek, erfüllen diese Aufgabe souverän.

Ein kosmisches Geschehen sei die Geschichte des Ödipus, sagte der Darsteller der Titelrolle Paul Gay im Krone-Interview, und so verbindet Regisseur Kriegenburg diese mit den Elementen und den Grundfarben. Feuer beziehungsweise Rot für die Freude der Geburt des Ödipus, Wasser in Form von Nebel, also Blau und Grau bei seiner Selbstfindung, schwarze Asche für das Unheil, das die Stadt Theben erleidet und schließlich lichte Naturtöne in einem Wald, in dem Ödipus seine Ruhe findet. Ebenso großartig und klar führt Kriegenburg die vielen Menschen auf der Bühne, oft choreografisch und geradezu ikonisch, meist im Mittelpunkt Ödipus selbst, so eindrucksvoll dargestellt wie gesungen von Paul Gay. Von den weiteren Soli seien herausgegriffen die schicksalhaft an Ödipus gebundene Jokaste von Marina Prudenskaja, die auch szenisch überwältigende Sphinx von Anna Danik oder die anrührende Antigone von Iris Candelaria, die ihrem Vater in der Verbannung beisteht. Unbedingt zu erwähnen ist Ante Jercunica als Seher Theresias, dessen Prophezeiungen von aufwühlend dunklen Klängen begleitet sind. Mit dieser Aufführung von George Enescus „Oedipe“ ist den Bregenzer Festspielen ein ganz großer Wurf gelungen und der Intendantin Lilli Paasikivi ist zu diesem Einstand zu gratulieren. Es wäre zu wünschen, dass dieses wunderbare Werk bald weitere Aufführungen erleben kann oder dass vielleicht sogar eine andere Bühne diese hochkarätige Produktion übernimmt.
Fotos Bregenzer Festspiele Anja Koehler
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