Frucht des Lockdowns oder die Deutungen von Beethovens Musik
Anna Adamik ist Professorin für Klavier am Vorarlberger Landeskonservatorium, zudem eine Pianistin mit reger Konzerttätigkeit. Letztere war im Jahr 2020 vielfach unmöglich, so fand Adamik Zeit, sich eingehend mit dem Klavierwerk Beethovens zu befassen. Die Frucht dieser Beschäftigung ist eine sehr hörenswerte CD, die beim Label Antes herausgekommen ist.
Im Mittelpunkt des Programmes, das diese spannende Einspielung bietet, steht Beethovens hochkomplexe Sonate Nr. 31 in As-Dur Opus 110, bei der Anna Adamik Bezüge zu unserer jetzigen, von der Corona-Pandemie bestimmten Situation, sieht: „In diesem Werk geht es um Krankheit und Genesung“, meint sie, und führt weiter aus: „Mit Blick auf Beethovens Lebenssituation, der damals einundfünfzig war, wirken alle musikalischen Entwicklungen ab der Fuge wie eine Darstellung dessen, was er in dieser Zeit erleiden musste: schwere Krankheit, aber schließlich der Ausweg durch die Kraft des Geistes. Diese späte Sonate endet im Licht und hat mich durch die Corona-Zeit getragen“. Ein persönliches Erleben liegt dieser Einspielung also zugrunde und befruchtet die großartig gelungene Interpretation dieses Werks wie auch der Sonate Nr. 17 in d-Moll mit dem Titel „Der Sturm“. In beiden Werken geht es um rasche Wechsel der Stimmungen, und diese gelingen der Pianistin beeindruckend gut. Von ganz anderem Charakter zeigt sich das Eröffnungswerk der CD, Beethovens Variationen über einen Tanz aus dem Ballett Das Waldmädchen von Paul Wranitzky WoO 71, die Adamik mit Frische und Leichtigkeit spielt, ebenso die bekannte Bagatelle Für Elise, die die CD – quasi als entspannende Zugabe – abschließt.
Es drängt mich, der verbalen Deutung von Anna Adamik eine weitere hinzuzufügen. Sie ist unter den wissenschaftlich ausgerichteten Musikologen nicht sehr beliebt, es gibt aber Musiker, die sich in ihren Interpretationen an ihr orientieren. Ich selbst habe sie von Nikolaus Harnoncourt persönlich erklärt bekommen und in der Folge mehrere Werke vor allem Beethovens, aber auch Schuberts, Note für Note daraufhin überprüft und wurde absolut überzeugt von ihrer Richtigkeit. Ich meine die Deutungen des deutschen Musikologen Arnold Schering (1877-1941). Er weist anhand der Konversationshefte Beethovens (die er aufgrund seiner Taubheit führen musste), der damals durchaus noch gebräuchlichen Klangrede des Barock beziehungsweise der Tonartensymbolik oder auch anhand von Äußerungen seiner näheren Freunde schlüssig nach, dass Beethoven sich beim Komponieren an literarische Vorlagen hielt. Keineswegs im Sinne von Programmmusik, sondern als Inspirationsquelle. Er hat bis auf wenige Ausnahmen, eine davon ist die Klaviersonate Der Sturm nach Shakespeares gleichnamigem Drama, diese Inspirationsquellen nicht bekannt gemacht. Der Hörer seiner Musik sollte also nichts davon wissen, wohl aber könnten diese literarischen Grundlagen für die Interpreten der Musik sehr wertvoll sein. Nikolaus Harnoncourt etwa hat Beethovens Sinfonien mit dem Chamber Orchestra of Europe nach diesen Gesichtspunkten geprobt – es war faszinierend.
Im Falle der Klaviersonate Opus 110 weist Schering in seinem Buch „Beethoven und die Dichtung“ auf das genaueste, oft Takt für Takt nach, dass diese von Schillers Drama Maria Stuart inspiriert ist. Deren vierter Satz, die komplexe Fuge, beschäftigt sich mit den letzten Stunden der unglücklichen Königin, bevor sie, gestärkt durch den Glauben, unmittelbar vor ihrer Hinrichtung das Licht des Jenseits und der Verklärung spürt.
Wie schon erwähnt, sind Scherings Deutungen umstritten, einerseits, weil Musikwissenschaftsguru Theodor W. Adorno die „absolute Musik“ an die höchste Stelle gesetzt hat, aber nicht zuletzt auch deswegen, weil Schering dem Nationalsozialismus nahestand. Man muss da allerdings unterscheiden, die Beethovendeutungen haben, bis auf die der V. Sinfonie, nichts mit braunem Gedankengut zu tun. Im Gegenteil, das offizielle Nazideutschland lehnte die Deutungen Scherings ab.
Es wäre noch viel zu sagen über diese verborgenen Programme, die übrigens in der Wiener Klassik generell üblich waren. Jedenfalls überzeugen sie mich wesentlich mehr als die biografischen Deutungen. Denn große Komponisten und Komponistinnen schöpfen bestimmt aus anderen, höheren Inspirationsquellen als aus ihrer eigenen Befindlichkeit. Nicht zuletzt deshalb ist ihre Musik über die Zeiten und Räume gültig.
(Foto: highresaudio)
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