Anu Tali dirigiert an diesem Wocheneden das Symphonieorchester Vorarlberg. Sie ist nicht zum erste Mal im Ländle, 2011 gastierte sie beim damaligen Feldkirch Festival. damals habe ich für das Programmheft das nachstehende Interview gemacht, über Email und in englischer Sprache.
Frau Tali, Ihre Heimat Estland ist, wie das gesamte Baltikum, berühmt für seine lebendige Musikkultur. Wie kamen Sie selbst zur Musik und ab wann stand es für Sie fest dass Sie Dirigentin werden würden?
Es stimmt, dass Estland gerne als “singende Nation” bezeichnet wird, vermutlich wegen seiner Jahrhunderte alten Tradition der Sängerfeste. Ich selbst liebe Musik, solange ich zurückdenken kann. Als meine Eltern merkten, dass meine Zwillingsschwester Kadri und ich uns von Musik anzogen fühlten, schickten sie uns in die Musikschule. Seitdem ist Musik das Wichtigste in meinem Leben. Ich habe studiert in Estland, Schweden und Finnland und schließlich in Sankt Petersburg in Russland. Aber dass ich Dirigentin werden würde, war nicht von vorneherein geplant, das hat sich so ergeben. Denn mein Professor in der Musikschule hatte ein Orchester, und wenn er verhindert war, ließ er mich die Proben leiten. So kam es dass ich schon in recht jungen Jahren und ohne viele Kenntnisse ein Orchester dirigierte. Was mich daran sofort faszinierte, war sowohl das Repertoire als auch die Farbigkeit und der Reichtum des Klanges. Dann konzentrierte ich meine Studien aufs Dirigieren, und eine Reihe von Professoren haben mich auf diesem Weg unterstützt, etwa Ilya Mussin oder Jorma Panula, und da bin ich nun.
Mit Ihrer Zwillingsschwester Kadri haben Sie im Jahr 1997 das Nordic Symphony Orchestra gegründet, mit dem Sie nun beim Feldkirch Festival gastieren. Wie würden Sie den besonderen Charakter dieses Klangkörpers beschreiben?
Die New York Times hat einmal über das Nordic Symphony Orchestra geschrieben, dass es die Energie einer riesigen Rock-Gruppe vermittelt. Ich glaube, das bringt es auf den Punkt. Es ist ein außerordentliches Glück für mich, mit diesem Orchester neunzig Menschen um mich zu haben, die von Musik genauso begeistert sind wie ich. Wir lieben unsere Tätigkeit und können unsere Zeit damit verbringen, zusammen Musik zu machen – etwas Besseres kann man sich nicht wünschen. Und auch unser Publikum lässt es nicht kalt, ein Orchester zu erleben, das eine hohe Qualität anstrebt und sich die Latte immer noch höher legt. Der reiche Klang und die überwältigende Energie wird als Markenzeichen für das NSO gesehen, und darauf sind wir stolz. Aber als Chefin des Orchesters weiß ich, dass es das Talent und die Fähigkeiten jedes einzelnen Musikers, jeder Musikerin ist, die die Qualität ausmacht. Fabelhafte Musiker und Musikerinnen aus der ganzen Welt kommen im NSO zusammen, um in der Musik die feinsten Details herauszuarbeiten und das beste Zusammenspiel anzustreben. Ich vertraue auf meine Leute und schneidere ihnen die Programme auf den Leib. Es ist wie Kammermusik mit neunzig Mitwirkenden.
Neben Ihrer Arbeit mit dem NSO dirigieren Sie Orchester rund um den Globus. Fallen Ihnen dabei nationale Eigenheiten in der Art, Musik zu machen, auf? Was ist das Charakteristische hier in Österreich?
Jedes Land ist verschieden durch die jeweilige Geschichte und Tradition, das drückt sich auch in den Orchestern aus. Aber die Grundidee des Musizierens ist unabhängig vom Ort. Irgendwie haben doch alle Musiker dieselbe Vergangenheit, nämlich die klassische Musik mit ihrer geschichtlichen Entwicklung und der Art, wie man sie erlernt. Das erleichtert meine Arbeit und schafft von vorneherein die gemeinsame Basis, wenn man in einem neuen Land mit einem neuen Orchester zu proben beginnt. Aber es ist auch schönes Gefühl, zu einem Orchester zurückzukommen, das man kennt. Das ist, als träfe man Freunde, man freut sich über das Wiedersehen, man weiß was auf einem zukommt und man kennt auch die Schattenseiten. Und man kann noch nach der Arbeit zusammen etwas trinken gehen, was ebenfalls nicht zu verachten ist.
Zu Österreich hatte ich immer eine spezielle Beziehung, vermutlich sollte ich sie schwärmerisch nennen. Ich liebe seine Natur, seine Traditionen, die Musik, die Sprache, das Essen und den Wein. Ich komme immer gern nach Österreich und bin gern unter österreichischen Menschen, denn es gibt eine Art des gemeinsamen Humors zwischen ihnen und mir und ich genieße es, mit ihnen zu musizieren. Aber ich würde vorsichtig sein mit der Behauptung, dass es eine charakteristische Art des Musizierens in Österreich gibt. Natürlich haben Sie in Ihrem Land Traditionen und typische Instrumente, die es sonst nirgendwo gibt, und natürlich entsteht daraus etwas ganz Besonderes. Für die ganze Welt ist die Musik der Familie Strauß typisch österreichisch, und wie sie bei Ihnen gespielt wird, ist die reine Freude!
Sie dirigieren Oper und Konzert, zeitgenössische und romantische Musik. Welcher ist Ihr bevorzugter musikalischer Stil?
In der Tat habe ich schon sehr viel Musik kennengelernt. Und ich denke, dass sich im Laufe des Lebens die Vorlieben verändern, alles hat seine Zeit. Bei mir ist es normalerweise so, dass ich mich zu der Musik, mit der ich gerade arbeite, am meisten hingezogen fühle. Aber zu bestimmten Zeiten meines Lebens habe ich mich auch aus mir selbst heraus mit bestimmter Musik näher beschäftigt. So habe ich früher einmal in einem russisch-orthodoxen Chor gesungen, um der besonderen Rhetorik der russischen Musik auf die Spur zu kommen – die russische Musik hat ja ihren Ursprung in der Vokalmusik, das spürt man auch in der viel späteren symphonischen Musik. Daraufhin ging ich nach Russland zum Studium, das nenne ich meine russische Periode. Seither hat sich bei mir viel geändert, etwa hat sich mein Interesse an zeitgenössischen Partituren aktuell stark entwickelt. Es ist eine unglaublich spannende Arbeit mit den lebenden Komponisten, man fühlt sich voll und ganz als ein Mensch des 21.Jahrhunderts. Es stört mich sehr, dass die klassische Musik oft als die Kunstform der Vergangenheit gesehen wird. Das sollte sich ändern, finde ich!
Es scheint, dass Sie sich am Dirigentenpult weniger als das Oberhaupt der Musiker und Musikerinnen sehen, vielmehr als ihre Partnerin. Was ist in Ihren Augen die Aufgabe eines Dirigenten, einer Dirigentin?
Partnerschaftliches Musizieren ist mir wirklich lieber, als die Chefin zu spielen!
Es ist doch die größte Freude, etwas gemeinsam zu machen und die bestmögliche gegenseitige Übereinstimmung zu erreichen, ob mit einem Solisten oder dem Orchester! Wie oft gelingt uns das schon im normalen Leben? Glücklicherweise habe wir die Musik, die solche Übereinstimmung ermöglicht. Und falls sie mit Ihrer Frage meinen, ob ich tyrannische Dirigenten gutheiße, so sage ich klar, dass deren Zeiten vorbei sind. Selbstverständlich sollte jeder Dirigent und jede Dirigentin eine klare Vorstellung von dem haben, was er oder sie in der Musik sehen möchte, und einen konkreten Plan, wie er oder sie die Musiker und Musikerinnen dorthin führen kann. Ich habe einen starken Glauben an den Respekt und die Intelligenz meiner Mitmenschen, und ich hoffe stets, mich in meiner Arbeit darauf verlassen zu können.
Sie sagten einmal, das langweiligste sei es, genau das zu spielen, was in den Noten steht. Können Sie diese Aussage, die für so manchen braven Musikschüler verwirrend sein könnte, näher erläutern?
Nehmen wir an, Sie und ich würden ein Gedicht laut vorlesen. Auch wenn wir es noch so sehr wollten, so würde nicht möglich sein, dass wir die jeweiligen Betonungen und Phrasierungen exakt gleich machen würden. Und das, obwohl wir am vorgegeben Text nichts ändern würden. Dasselbe passiert in der Musik. Wir haben den Notentext, den wir mit Ehrfrucht behandeln und von dem wir ausgehen, und der soll lebendig werden. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten der Art, eine Phrase zu formen, Farben hervorzuholen, den Sinn und die Botschaft herauszuschälen. Die minimalste Art, das Tempo zu verändern, kann die Stimmung oder die Aussage der Musik verwandeln. Und etwas, was bei dem einem Interpreten fröhlich klingt, kann bei einem anderen einen aggressiven oder grotesken Ausdruck annehmen. Das macht jeden Interpreten und jede Interpretin einzigartig und ist das, was mich persönlich bei einem Konzert interessiert. Ein berühmter Konzertmeister sagte mir einmal, dass jedes Musikstück für ein bestimmtes Orchester in Wahrheit nur ein einziges richtiges Tempo haben kann. Ich weiß inzwischen, dass das auf gewisse Art richtig ist. Das heißt aber auch, dass das, was für die eine Gruppe gut ist, nicht unbedingt auch bei einer anderen funktioniert. Auch glaube ich, dass jede Person einen spezifischen Klang selbst schafft und auch bei Anderen hervorruft. Also reagieren Orchester auf verschiedene Dirigenten mit einem unterschiedlichen Klangbild. Um nochmals auf Ihre Frage zurückzukommen: ich habe damals gemeint, dass die Kunst der Interpretation etwas viel Verfeinerteres und Komplexeres ist als eine Wiedergabe der Noten. Es geht darum, den Sinn eines Werks zu erfassen und einen Weg zu finden, ihn mitzuteilen. Schließlich soll eine Geschichte gut erzählt werden. Große Interpretationen erwecken eine Partitur zum Leben, aber da gibt meiner Ansicht nach es nicht die eine Wahrheit und nicht einen einzigen Weg.
Die Oper “Fröken Julie”, die Sie hier in Feldkirch dirigieren, erzählt uns von den zu der damaligen Zeit unüberwindlichen Rollenbildern von Mann und Frau. Was bedeutet das in der heutigen Zeit für Sie und vor allem für Ihre doch sehr emanzipierte Tätigkeit der Dirigentin?
Natürlich kann ich keine verbindliche Aussage treffen darüber, wie die Dinge heute sind. Aber eines weiß ich, nämlich dass uns heute nichts, aber auch wirklich gar nichts mehr überraschen kann. Die Welt hat schon so gut wie alles gesehen und Jeder und Jede kann heute seine oder ihre eigenen Ansichten haben über das Leben, die Gepflogenheiten und all das. Jedem und Jeder sollte das auch wirklich möglich sein. Das Leben ist in stetigem Fluss und hat eine geheimnisvolle Art, gewisse Dinge ohnehin auszusondern. Vorurteile haben keinen Platz in meiner Welt!
Beschreiben Sie uns bitte die Musik von Ilkka Kuusisto!
Bitte kommen Sie und hören selbst die Oper, denn es ist unmöglich für mich, eine Komposition in Worten zu beschreiben. Was ich darin sehe, mag für Sie überhaupt nicht gelten. Also wäre es mir lieber, Sie kommen zur Aufführung und bilden Ihre eigene Meinung.
Vielen Dank für das Gespräch
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