Ein Tyrann mit Gewissensbissen
Der römische Kaiser Nero ist ein Inbegriff des Bösen. Seine Geschichte, vertont von Arrigo Boito, durfte im Beisein der hohen Politik vom Bundespräsidenten abwärts die Bregenzer Festspiele 2021 eröffnen, nachdem diese Pandemie-bedingt im letzten Jahr nicht in der gewohnten Form stattfinden konnten, da gab es lediglich eine Bregenzer Festwoche
Arrigo Boito ist vor allem bekannt geworden durch seine Libretti für die späten Opern Giuseppe Verdis, „Otello“ und „Falstaff“, beide nach Shakespeare, sowie für die Oper „Amleto“, also „Hamlet“ von Franco Faccio, die 2016 die Bregenzer Hausoper war. Aber Boito hat auch komponiert, und da kennen wir vor allem seinen „Mefistofele“, nun seit Mittwochabend auch seinen „Nero“, zu dem er selbst den Text verfasst hat, dieses MAl ohne ein Vorbild aus der großen Literatur. Boito hat über fünfzig Jahre kontinuierlich an diesem Werk gearbeitet und es dennoch nicht vollendet – der fünfte Akt fehlt. In der vieraktigen Fassung wurde dieses Spiel um den wahnsinnigen Tyrannen immerhin von Arturo Toscanini uraufgeführt. Das spricht für die Qualität der Musik, und so empfand es auch das Premierenpublikum in Bregenz, das für die Sänger einen höflichen Applaus spendete, das Regieteam sogar mit einigen Buhs bedachte, aber beim Erscheinen des Dirigenten Dirk Kaftan in Jubel ausbrach und ihn und die Wiener Symphoniker kräftig feierte. Tatsächlich hielt einem der orchestrale Part wie auch der fabelhaft singende Prager Philharmonische Chor die drei Stunden der Aufführung lang bei Laune. Viele instrumentale Soli, plastische, ja sprechende Klangbilder, wuchtige Ausbrüche, dazu Chöre von zartem Acapella bis hin zu geballter Kraft, all das rettete den Abend. Denn von der Bühne herkam eher Verwirrendes. Natürlich liegt das an den dramaturgischen Schwächen des Textes, die die Regie von Olivier Tambosi wie auch die Kostüme von Gesine Völlm nicht wirklich deutlicher machen konnten. Bühnenbildner Frank Philipp Schlössmann hatte offenbar Freude mit der leistungsstarken Bühnentechnik des Hauses und bewegte, was zu bewegen ist. Vielleicht um das Chaos im Gemüt Neros zu veranschaulichen, der an Gewissensbissen wegen des Mordes an seiner Mutter leidet, was ihn aber nicht an weiteren Gewalttaten hindert. Doch halt, der Brand von Rom hat er nicht zu verantworten, sondern die Gnostiker. Denn ein Fokus der Handlung liegt auf den Differenzen zwischen dieser Philosophie, dem römischen Götterglauben und dem neuen Christentum. Und da ist Rubria (Alessandra Volpe) wohl die Figur, mit der das Publikum am meisten anfangen kann, sie will diese widerstrebenden Richtungen „in Liebe“ vereinen. Als Nero erlebt man Rafael Rojas, der kraftvolle Höhen stemmt. Auch Svetlana Askenova als Asturia zeigt dramatische Attacke, Lucio Gallo mit seinem klangschönen Bassbariton muss gar als Ikarus in die Lüfte fliegen, und Brett Polegato als Fanuel wandelt wie Jesus durch die Szene. Sie alle haben diese schweren Partien gelernt, werden sie aber kaum je wieder singen. Denn diese Aufführung ist ein Experiment, das wohl nirgends wiederholt werden wird.
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